Chamonix. Ich hatte bis zum 31. August 2012 noch nie einen Lauf aufgegeben – über 100 Marathonläufe und ein Dutzend Ultraläufe erfolgreich gefinisht. An dem Tag starte ich zum 10. Ultra-Trail du Mont Blanc über 100 Kilometer rund um den höchsten Berg Europas. Ich kehre mit grandiosen Landschaftseindrücken und grenzwertigen körperliche Erfahrungen sowie einer neuen Erkenntnis zurück: um sich am Ende nicht selbst einer unkalkulierbaren Gefahr auszusetzen, ist es wohl vernünftiger, einmal aufzugeben, wenn die äußeren Umstände so extremer Natur sind.
Zwei Tage vor dem Lauf warnen die Veranstalter bereits per SMS vor Starkregen und Schnee ab 2.000 Meter. Mich erreicht die Nachricht im Familienurlaub in der Provence. Bei 30 Grad will ich aber nicht wirklich an den bevorstehenden Winter in den 400 Kilometern entfernten Alpen glauben. Außerdem fühlte ich mich bestens ausgerüstet. Schon auf dem Weg zum Bus brauche ich dann auch am Morgen zum ersten Mal die Regenjacke und die bleibt mit kurzer Unterbrechung dann den gesamten Tag an. Die Bedenken am Start („Was mache ich hier eigentlich?“) weichen schnell der üblichen Laufeuphorie. Gut gelaunt meistere ich den Aufstieg zum ersten Zweitausender und genieße den Blick zurück nach Courmayeur – grandios! Es wird die letzte gute Sicht für längere Zeit bleiben. Auf dem folgenden Panoramatrail ist leider kein Blick auf den Mont Blanc zu erhaschen und langsam geht der Regen in Schnee über.
Handschuhe raus, Wintermütze auf, zweites Paar Handschuhe darüber. Beim Anstieg auf den mit 2.537 Meter höchsten Punkt, den Grand Col Ferry, kann ich mit meiner Ausrüstung noch dem Wintereinbruch trotzen. Der folgende Dauerregen weicht aber Hand- und Laufschuhe durch. Mit Regenbekleidung und mehreren Schichten Laufsachen bleibt zumindest der Rest des Körpers geschützt. Nebel, Graupel und Regen wechseln. Zur Halbzeit wird bei Kilometer 54 die Kopflampe erforderlich. Zum Dauerregen kommen die Dunkelheit und der beschwerliche Anstieg zum nächsten, knapp 2000 Meter hohen Berg Bovine, bei dem ich mir den Kopf an einem über dem Weg liegenden Baum ramme. Der Weg ist vor lauter Wasser kaum noch zu erkennen. Ab 1.700 Metern geht es wieder in den Winter über. Die Handschuhe erweisen sich als Schwachpunkt, aber anderen Läufern ergeht es schlimmer. Zitternd erreichen sie den zur „Aufwärmhalle“ umfunktionierten Schafstall und bekommen Rettungsdecken übergezogen. Aufgeben ist an dieser Stelle nicht möglich. Es gibt weder eine Straße noch eine Seilbahn. Also weiter.
Auf den schlammigen Wegen bergab gibt es kaum noch ein Halten. Froh, ohne weitere Blessuren das Tal im schweizerischen Trient erreicht zu haben, sitze ich um 1 Uhr nachts im Verpflegungszelt und treffe die schwerste Entscheidung meiner Laufkarriere. Noch zwei Berge a‘ 2.000 Meter – das Risiko eines Kräfteeinbruchs unter den äußeren Bedingungen ist mir zu groß. Nach 15 Stunden und 71 gelaufenen Kilometern gehe ich in das Büro der Rennleitung, gebe meine Startnummer ab und steige in den Bus nach Chamonix. Im Nachgang ärgere ich mich über die schlechte Information an der Strecke. Der Veranstalter hatte den ersten und den letzten Berg wegen der Wetterlage kurzfristig aus dem Lauf gestrichen. Hätte ich gewusst, dass es nur noch einmal den Winter zu überstehen gab, hätte ich es vielleicht probiert. Neben dem riskanten Krisenmanagement war auch die Versorgung für einen Lauf, der durch die Schweiz führt, ungewöhnlich schlecht organisiert. Vielleicht sind wir sind da in Deutschland aber auch „verwöhnt“.
Trotzdem will ich wieder an den „weißen Berg“, den ich diesmal im Nebel gar nicht gesehen habe. Gleich am Morgen gehe ich in einer Sportausrüsterladen und kaufe mir neue, wasserabweisende Handschuhe. „I will come back and then I will I be finished“, sage ich zu Francois, dem Banker aus Genova, der gerade auch seinen Lauf abgebrochen hat. Eine „offene Rechnung mit einem Berg“ – noch eine neue Lauferfahrung für mich.
Am Start waren neben mir noch mindestens drei weitere Thüringer. Beim 112-Kilometerlauf (TDS) erreichten mehr als 800 der 1.400 gestarteten Teilnehmer bei Dauerregen nicht das Ziel in Chamonix. Unter ihnen auch der Jenaer Gerd Hantsche, der das vorgegebene Zeitlimit überschritt und gestoppt wurde. Obwohl die Bedingungen beim zuletzt gestarteten Wettbewerb, dem UTMB, auch nicht besser waren, erreichten Frank Becker (USV Erfurt) und Thomas Ecke (USV Jena) mit ihrer Erfahrung erfolgreich das Ziel. Der Veranstalter hatte die Strecke allerdings entschärft. Statt der geplanten168 Kilometer und 9.600 Höhenmetern, wurde der Kurs auf 103 Kilometer und 6.000 Höhenmeter verkürzt. Trotzdem führte der Lauf die Teilnehmer mit einer gefühlten Temperatur von -10 Grad in den Bergpassagen, Regen, Schnee und viel Schlamm in steilen An- und Abstiegen an ihre Grenzen und darüber hinaus. Viele Stürze und abgebrochene oder verbogene Stöcke unterstreichen das. Der „UTMB-Light“, befriedigte die härtesten Läufer aber nicht. Von den 2.500 gestarteten Läufern gaben viele wegen „fehlender Motivation“ auf. Nicht so Becker und Ecke. Nach 20,5 bzw. 21 Stunden erreichten sie das Ziel als 1086. bzw. 1170. Für Becker war es nach 2009 (UTMB) und 2011 (TDS) die dritte erfolgreiche Teilnahme an dem Lauf. Der diesjährige Lauf war für ihn aber der Härteste, da er als einer von ganz wenigen Teilnehmern aus Überzeugung immer ohne Stöcke startet und so die rutschigen Wege viel Kraft kosteten. Ecke nahm bereits zum 4. Mal hintereinander teil, wobei bereits 2010 der UTMB kurz nach dem Start wegen eines Wettersturzes abgebrochen werden musste. Der UTMB wurde in diesem Jahr wieder einmal seinem Ruf als einem der härtesten Laufwettbewerbe der Welt gerecht.