„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“, heißt es so schön im Volksmund. Und er hat Recht, wie ich gestern auf schmerzliche Weise beim 8 Kilometer Crosslauf der 5. Senioren-Hallenweltmeisterschaften im finnischen Jyväskylä erfahren musste.
Schon seit vielen Wochen bereitete ich mich im Training intensiv auf dieses Großereignis vor. Die Wettkampfergebnisse zeigten eine steigende Formkurve, ich konnte gut trainieren und war wenige Tage vor dem Abflug nach Finnland voller Optimismus. Dann das Missgeschick. Eine falsche Bewegung beim Bücken während des Kofferpackens, ein starker Schmerz im Rücken – ein „Hexenschuss“. Da sind es noch gut zwei Tage bis zum Start im Cross.
Die üblichen Behandlungen mindern den Schmerz, aber an Laufen ist zunächst nicht zu denken. Der Zustand verbessert sich zwar schnell, ist aber weiter labil. Wenige Stunden vor dem Start dann kaum noch Schmerzen, ich entscheide zu starten.
Die Strecke ist anspruchsvoll, Glätte und Schneefall lassen sie zu einer der schwersten WM-Cross-Strecken der letzten Jahre werden. Meine Altergruppe M45 startet gemeinsam mit der Altersklasse M50. Das Feld sortiert sich schnell. Ich laufe in der Spitzengruppe mit. Allmählich wird sie immer kleiner. Ich fühle mich gut, kann weiter mithalten.Nach zwei Runden, zur Halbzeit des Rennens, sind wir vorn nur noch zu dritt; ein Algerier und ein Spanier – beide M50 – sorgen für das Tempo, ich bleibe dran und bin darauf bedacht, nicht abreißen zu lassen. Am letzten „giftigen“ Anstieg, es sind vielleicht noch 1200 Meter zu laufen, kann sich der Spanier durch einen Antritt lösen. Ich laufe weiter hinter dem Algerier, wir haben einen beruhigenden Vorsprung auf die Verfolger.
Noch 800 Meter, gleich geht es in die letzte Bergab-Passage, dann noch ein mittelschwerer Anstieg, bevor im Stadion die letzten 300 Meter auf Tartan ins Ziel gelaufen werden. Kein 45er hinter mir in Sicht, eigentlich ist das Rennen entschieden. Das große Ziel, bei einer WM als Erster die Ziellinie zu überqueren, scheint jetzt und hier greifbar nahe.
Plötzlich ein stechender Schmerz im Rücken. Die alte Verletzung – ich habe Mühe, die nächsten Schritte zu setzen, ohne zu stürzen. Ich versuche es mit kleinen Trippelschritten und bleibe in Bewegung. Schnell bildet sich ein großes Loch zum Algerier. Daran sehe ich, dass ich kaum noch vorwärts komme; ich bin den Tränen nahe. Langsam löst sich die schmerzhafte Verkrampfung, ich erreiche den Anstieg und kann die Schritte wieder etwas länger ziehen.
Unter Schmerzen quäle ich mich hoch. Am Stadioneingang geht mein erster Verfolger, ein Däne aus der M45, an mir vorbei. Ich kann nicht gegenhalten, spüre aber, dass der nun ebene Untergrund mir gut tut und ich wieder Tempo aufnehme. Auf den letzten 150 Metern erreiche ich zwar wieder die Geschwindigkeit des Dänen, aber das reicht gerade, um die Angriffe der herannahenden Konkurrenz abzuwehren. Mit wenigen Sekunden Rückstand laufe ich als Zweiter der M45 über die Ziellinie.
Auch einen Tag danach grüble ich darüber, ob ich nun weinen oder lachen soll. Habe ich Gold verloren oder doch eher Silber gewonnen? Ich ärgere mich über die verpasste Chance, aber vielleicht sollte ich froh sein, überhaupt noch in der Lage gewesen zu sein, ins Ziel zu laufen. Auch meine Mannschaftskameraden waren dafür dankbar, konnten wir doch in der Teamwertung die Bronzemedaille in Empfang nehmen.
Hallo Herr Meyer,
das ist ein starker Bericht zu einer überaus starken läuferischen Leistung. Es sollte eindeutig die Freude überwiegen.
Wären Sie nicht gestartet, hätten Sie auch mit sich gehadert. So sind Sportler. Sie haben viel riskiert und ganz viel gewonnen.
Ausserdem sind Sie noch Teil einer tollen Mannschaftsleistung.
Respekt und Gratulation.
hallo steffen,
natürlich erstmal herzlichen glückwunsch zu der überragenden leistung, silber bei der wm ist ein super resultat und du kannst stolz auf dich sein. und für mich ist es ganz klar, silber gewonnen statt gold verloren.
schöne grüße
Glückwunsch – grandiose Leistung und ein sensationeller. fesselnder Bericht. Das Bewußtsein der Beste gewesen zu sein wird bleiben. Neue Ziele ins Auge fassen, nach VORN schauen – respektvoll und herzlichst Jürgen
Und dazu inzwischen noch ein Mal Einzel-Silber (im Straßengehen über 10 km) sowie dabei und im Bahngehen über 3000 m jeweils Mannschafts-Gold – wenn das keine erfolgreiche WM-Teilnahme war !
Ganz klare Antwort: unverkrampft ins Rennen gegangen, mentale Stärke bewiesen, nicht aufgegeben, Silber gewonnen! Ein starkes Rennen, das Selbstvertrauen geben sollte. Bei vielen hätte in dieser Situation am Ende Platz 4 oder DNF in der Ergebnisliste gestanden.