Kati Schramm ist eine erfahrene Marathon- und Ultraläuferin. Einen flachen Marathon läuft sie in 4 Stunden. Wie sie die 100 Kilometer des Thüringenultra am heißesten Wochenende des Jahres erlebte, schildert sie in ihrem Blog und hier auf Laufszene-Thüringen:
Freitagabend bin ich in Fröttstädt und finde noch ein nettes Plätzchen für mein Auto auf dem Veranstaltungsareal. Diesmal nutze ich „Campingmöglichkeit im Start-/Zielbereich“, denn bei Start um 4 Uhr ist der Schwabe zu geizig für ein Pensionszimmer, und das wär in dem Fall einfach auch zu aufwändig. Die meisten Läufer sitzt schon beim Essen, schnell finde ich meine Freunde und Bekannten. Es gibt eine Kinderportion Nudeln aus der Plastikschüssel, aber das ist okay, die Bierreserve ist ausreichend. Die Infrastruktur bietet ein paar Toiletten, auf der anderen Seite sind Duschcontainer aufgestellt. Je 2 Duschen und Waschbecken für Damen und für Herren, neu und noch sauber. Für mich hat das aber schon echten Survival-Charakter. Gemeldet sind ca 250 Einzelstarter und etliche 2er- und 4er-Staffeln.
Die Nacht ist kurz – als ich gegen 3 Uhr aufwache, gibt es bereits Frühstück. Es hat schon jetzt um die 20 Grad. Der Deutsche Wetterdienst hofft, dass heute Temperaturrekorde gebrochen werden. 40,2 Grad in Karlsruhe und in Freiburg aus dem Jahr 2003 gilt es zu schlagen. Mit 37 – 39 Grad ist ernsthaft zu rechnen. Mal abwarten, wie das wird. Vorsicht ist auf jeden Fall die Mutter der Porzellankiste.
Erst einmal haben wir aber ganz andere Sorgen, denn Thüringen will unser Blut! Der Start erfolgt unspektakulär und gemütlich. Kaum geht es nach zwei, drei Kilometern von der Straße in den Wald, fallen Flashmobs ausgehungerter Schnaken und Bremsen über uns her. Nur die ersten Minuten sind wir im Dunkeln gelaufen, bald schon ist es richtig hell. Schwarze Insektenwolken fliegen mit den schwitzenden Läufern. Fast jeder wedelt mit der Hand vor dem Gesicht herum – isoliert betrachtet gibt das ein ganz lustiges Bild, so ein bisschen wie aus der Anstalt. Auf den ersten 30 Kilometern verliere ich etwa einen Liter Blut. Danach lassen sich hummeldicke Vampire zufrieden in den Schatten plumpsen. Wie wir die nächsten 70 Kilometer überstehen, ist nicht mehr deren Problem.
Für heute habe ich keinen Plan. Bei normalen Temperaturen würde ich für die Strecke wohl so um die 14 Stunden brauchen? Dass da hitzemäßig einiges draufkommt, das ist sowieso klar. Meine Vorstellung lässt einen kontrollierten Ausstieg irgendwo bei Kilometer 50 durchaus zu, zumindest wenn ich mir ausmale, wie es mir auf der zweiten Hälfte gehen wird. Was definitiv und kategorisch auch hier nicht infrage kommt sind Erbrechen, Kollaps oder Infusion. Aber jetzt laufen wir erstmal, solange die Temperaturen noch ok sind. Das sind sie glaube ich so bis km 20, 25. Die ersten 15 Kilometer vertreibe ich mir mit Achim, der heute seinen ersten 100er macht und ihn gut bestehen wird. Birgit startet eine Stunde später mit den Staffeln und ich rechne damit, dass sie mich einholen wird.Für die ersten 30 Kilometer brauche ich etwa viereinhalb Stunden. Die Wege sind wurzelig und holprig und nicht ganz so einfach zu laufen. Schlurfen ist hier jedenfalls nicht. Ständig geht es nur bergauf. Leider habe ich mir das Höhenprofil nicht eingeprägt, aber die penetranten Steigungen kommen mir doch recht üppig vor. Tatsächlich werden deutlich mehr als die Hälfte der Höhenmeter auf den ersten 50 Kilometer gemacht werden. Heute und sowieso absolut ein Vorteil.
Vieles habe ich vergessen. Das erste Drittel des Laufs ist noch gut machbar, denn im Wald ist es weitgehend schattig und manchmal geht sogar ein kleines Lüftchen. Trotzdem lässt sich die heranrollende Hitze schon ab 7, 8 Uhr nicht mehr verleugnen.
Die Verpflegungspunkte kommen zuverlässig alle 5 – 6 Kilometer und sind von Beginn an hervorragend ausgestattet. Ich habe keinen Rucksack dabei und nur ein paar Salztabletten, Traubenzucker, Sonnencreme und Taschentücher in den Hosentaschen. Die Mini-Trinkblase mit 250 ml reicht mir ab Kilometer 40 zwischen den Stationen. Die Stimmung unter den Läufern ist sehr angenehm.
Ich bin froh, als Kilometer 33 erreicht ist. Von hier ab denke ich bis zum Marathon, und von dort ab bis Kilometer 50 – die erreiche ich mit einer Laufzeit von knapp 7:15 Stunden. Sobald die Hälfte geschafft ist, bin ich mental meist über den Berg. Unseren inneren Zenit haben wir natürlich alle schon überschritten. Es ist 11 Uhr durch, und die Sonne knallt jetzt so richtig fies rein. Die Schatten im Wald werden kürzer, und es gibt zunehmend ausgesetzte Passagen. Hier holt mich Birgit ein, die noch einen sehr respektablen Schritt drauf hat. Die Frage, ob ich als Staffelläufer bis hierher auch wirklich schneller gelaufen wäre, die stelle ich mir besser nicht. Aber ich hab ja auch noch ein Stück.
Die Landschaft ist zum Teil wunderschön und eröffnet weite Blicke. Wie oft wir irgendwo hinauf kommen und in ein sanftes Tal schauen, keine Ahnung. Es könnte ein Genusslauf sein. Auch der Große Inselsberg ist zu sehen, Kilometer 25 rum beim Rennsteiglauf und hier ins Logo integriert. Mir ist alles sehr vertraut, auch der langsam auftretende Baumkoller.
Es geht durch einen gemauerten Tunnel, in dem es angenehm kühl ist. Hier sitzt einer auf dem Boden, was ich für eine gute Idee halte. 10 Minuten Aufenthalt sind Gold wert. Es geht darum, nicht allzu sehr zu überhitzen. Meine beiden Tücher, die ich bei jeder Gelegenheit komplett nassmache, sind jeweils nach 2 Kilometern wieder staubtrocken. Sie retten mich. Kurz danach, vor der zweiten Wechselzone bei Kilometer 54, läuft Sven auf. Ich bin nicht ganz sicher, aber vielleicht hätte ich ohne Sven den Lauf nicht zu Ende gemacht. Sven ist Serientäter und ein glänzender Motivator und hat sich einen Spaß draus gemacht, mit Verspätung loszulaufen. Er hat die überholten Läufer gezählt, es sind über 40 und mehr als ich gedacht hätte. Zudem hat er einen 4-Kilo-Rucksack dabei, aus dem er sehr großzügig den erlesensten Proviant anbietet. Neben Datteln und Chia-Samen hat er Isogetränk und sogar Koffeintabletten dabei. Ihr könnt Euch vorstellen, was ich ihm im Verlauf der nächsten Stunden alles so wegfuttere…
Er erklärt mir den Streckenverlauf und dass jetzt 7 Kilometer Anstieg bis zur nächsten Verpflegungspunkt kommen, auf denen sich entscheiden wird, wer im Rennen bleibt. Längst hat sich bei mir Trotz breitgemacht, ich werde hier nicht freiwillig rausgehen. Wir sind in der mittäglichen Gluthitze und es gibt weite Abschnitte ohne Schatten. Der Anstieg ist nicht steil, aber nachhaltig. Ich gehe das komplette Stück und versuche nicht einmal in den flachen Abschnitten mehr zu rennen. Das zahlt sich aus, denn oben bin ich nicht fertiger als unten. Auch an dieser VP werden wir wie Helden empfangen. Überall gibt es Sitzgelegenheiten und die Helfer tun alles, damit es uns gut geht. Echt saustark hier.
S
ven läuft mit mir weiter und wartet an jeder Verpflegungspunkt auf mich. Ich sage ihm, dass er das nicht muss, aber ich bin trotzdem dankbar, dass er es macht. Tatsächlich bin ich in einer Phase, in der ich jeden Zuspruch echt gut brauchen kann. Normalerweise bin ich dahingehend ja nicht so bedürftig, aber heute ist halt echter Ausnahmezustand. Wir kommen an einem Freibad vorbei, das sich für einen Toilettengang anbietet. Mein Bild im Spiegel deckt sich mit meinen Erwartungen: zerstört, aber nicht hoffnungslos. Das passt. Kurz darauf kommt eine tolle VP, an der ich mich länger aufhalte, denn Sven hat mich schon vor dem danach folgenden steilen Anstieg gewarnt. Es habe bereits auf 37 Grad abgekühlt, sagt der Helfer. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es ist, aber wir sind bei Kilometer 68. Auf der Uhr habe ich schon 2 mehr.
Der Anstieg in der Sonne ist ganz brutal und zieht sich bis in ein Waldstück hinein. Sven wartet an der nächsten Verpflegungspunkt. Uns hat schon lange keiner mehr überholt und wir sind recht isoliert, umso dankbarer bin ich für seine Begleitung. Ein klein wenig mies geht es mir auch. An der nächsten Verpflegungspunkt bei km 75 steht ein Besenwagen, an dem ich zuerst stramm vorbeilaufe – spontane Entscheidungen bei km 75: no way, immer erst nachdenken. Auch wenn der Besenwagen gleich wegfährt, da kommt sicher nochmal einer. Als ich auf der Bank sitze, meldet sich jedoch der Kreislauf zu Wort. Mir ist ein wenig blöd. Nicht kritisch, aber auch nicht gut. Es sind nur noch 25 Kilometer, aber die meisten davon schattenlos, und das bedeutet, weitere 5 Stunden in der Gluthitze herum zu hatschen. Was für ein Schlauch. Ich entschließe, dass hier und jetzt für mich Schluss ist.
Jetzt bleib ich aber erstmal eine Weile sitzen, im Bus ist es sicher auch nicht so toll. Sven sagt, ich soll weiterlaufen, drängt mich aber nicht. Natürlich kann und muss und werde ich das selbst entscheiden, keine Frage. Plötzlich steht René da. Er ist extra wieder aus dem Bus ausgestiegen, um mir Mut zu machen. René ist einer von denen, die immer gut ins Ziel kommen, und er musste aufgeben. Dann kann ich aber guten Gewissens auch raus, oder? Als die beiden meine Unentschlossenheit bemerken, manipulieren sie mich so lange, bis ich weiterlaufe. Wenn es mir wirklich dreckig gegangen wäre, hätten sie das sicher nicht getan.
Gerade als ich meine Tücher nassmache, kommt noch Otto um die Ecke. Er läuft Zweierstaffel und will hier auch raus. Aber zu spät, ich gehe weiter, Sven ist schon losgelaufen, bevor ich es mir nochmal anders überlege. Zwei Kilometer weiter darf ich bei zwei Betreuern mit Gießkanne mal nach Hause telefonieren. Zuhause ist alles ok, und ich sage, dass es bei mir länger dauert und ich mich nicht mehr melde und auch erst morgen nach Hause fahre. Jetzt bin ich völlig entspannt, denn es interessiert ja eh keinen, wie lange es noch dauert.
Der Rest ist ein Abwandern durch die Gluthitze. Schon längst renne ich nur noch die abfallenden Passagen auf Asphalt, und das sind wenige. Hinter dem nächsten Verpflegungspunkt ist für mich klar, dass ich nicht mehr rausgehe. Der Kreislauf hat sich auch wieder gefangen.
Es folgen viele nette Begegnungen mit Zuschauern und großen und kleinen privaten Verpflegungspunkten. Danach finde ich einen Läufer, der sich mitten auf dem Waldweg einfach auf den Boden gesetzt hat und nicht mehr weiter kann. Er hat eine Radlerin dabei und ist noch in vertretbar gutem Zustand, der Check der Verdauungsparameter indiziert aber eindeutig, dass für ihn jetzt Schluss ist. Ich verspreche, jemanden mit Cola und Salzstangen von der nächsten Verpflegungspunkt zu schicken. Der informierte Betreuer macht sich sofort mit allem Gewünschten und ohne weitere Fragen auf den Weg.Kilometer 84, immer noch 3 Stunden. Hier wartet wieder Sven, er wollte nochmal schauen, ob ich ok bin. Hier ist auch ein großes Wasserbecken, das ich schon von Bildern kenne. Da möchte ich jetzt meine Füße reinstellen, am besten bis zum Hals. Unter meinen Fußsohlen braut sich aber was zusammen und ich bin sicher, dass ich mir das a) jetzt nicht anschauen sollte (Schuhe bleiben IMMER an!) und b) dass nasse Socken vielleicht unter den Bedingungen nicht der Hit sind. Sven läuft jetzt ohne mich weiter, offenbar bin ich durch die Kontrolle gekommen.
Der Rest vergeht halt irgendwie und ist mir auch egal. Der Asphalt- und Schotterwegeanteil nimmt zu, was mir gelegen kommt. Verdammt staubig ist es und immer noch drückend heiß. Landschaftlich gibt das jetzt nichts mehr her, aber wir kommen durch ein paar kleine Käffer, in denen vor jedem zweiten Haus mindestens eine Wasserwanne für uns steht. Meistens sind auch Getränke und manchmal sogar andere Kleinigkeiten dabei. Ich trinke alkoholfreies Bier, Cola und Saft. Menschen sind kaum auf der Straße.
Bei Kilometer 95 gibt es noch eine ganz besondere Herausforderung: Schon von mindestens einem Kilometer Entfernung ist feinstes Ballermann-Gegröle zu hören. Hier gibt es einen Verpflegungspunkt mit aufgebautem Zielbogen und mehreren Moderatoren, sehr lauter Partymucke und Cheerleadern. Jeder Läufer wird von weitem begrüßt und den ganzen Anlauf über ganz besonders motiviert. Ich bin nur leider gar nicht mehr in der Verfassung. Ich will meine Ruhe haben und kann keine Party mehr brauchen. Auch die schon von weitem angekündigte Dusche macht mir Angst – wollen die mir auf den letzten Metern etwa noch die Frisur ruinieren? Im Ernst, eine unfreiwillige Dusche würde mich kreislaufmäßig killen, das geht gar nicht. Im Näherkommen überlege ich mir, wie ich da am besten und am schnellsten durchkomme, ohne die Leute in ihren Bemühungen allzu sehr zu enttäuschen. Schließlich will man ja auch ein guter Gast sein. Es ist dann aber alles halb so schlimm, schnell ist dort klar, dass ich nicht mehr viel brauche, und es wird sehr nett akzeptiert. Klar, es sind ja auch schon andere Kadaver hier durchgekommen.
Die letzten 4 Kilometer laufe ich mit Andreas, nochmal ein sehr netter Begleiter zum Schluss. Vor lauter Schwätzen verlaufen wir uns dann tatsächlich noch bei km 98, merken es zum Glück aber schon nach 200 Metern. Und da kommt auch schon der Zieleinlauf. Das dicke Kissen unter meinem Ballen gibt nach und leert sich, die Monsterblase hat bis hierher gehalten – Schwein gehabt.
Trullala und Trallala, der Empfang im Ziel ist großartig, Sven und René und Kati beglückwünschen mich herzlich, aber ich bin leider kein besonders guter Gesprächspartner mehr und muss jetzt ganz schnell unter die Dusche, bevor ich merke, wie müde ich bin. Abgesehen von den Füßen fehlt mir aber nix, auch der Kreislauf ist ok. Mit sagenhaften 17:33 bin ich sogar noch in der offiziellen Zielzeit, wobei die heute glaub keinen mehr interessiert. Von den knapp 250 Startern konnten etwa 50 das Rennen nicht beenden. Von 31 Frauen überleben 21, hinter mir kommt keine mehr.
Es gibt eine Babyportion Gulaschsuppe, die ganz hervorragend schmeckt, dazu ein Bier und großes Läuferlatein mit neuen und alten Freunden und meine Welt ist in Ordnung. Ich falle ohne weitere Wünsche in meinen Kofferraum. Nebenan in Erfurt geht ein Unwetter nieder, das Bäume entwurzelt. Schon wieder Schwein gehabt. Hier wären wahrscheinlich die Zelte mitsamt den Läufern weggeflogen, so laut und zufrieden wie es ringsum schnarcht.
Katis Blog