Der Marathonweltrekord lag Anfang der 90-er Jahre bei 2:06:50 h (aufgestellt 1988), derzeit beträgt er 2:03:23 h. Das ist eine enorme Steigerung und schon eine kleine Welt, die dazwischen liegt. Wendet man sich aber von der absoluten Spitze ab und betrachtet, was so dahinter folgt, dann entsteht schnell der Eindruck, dass die Leistungen bestenfalls stagnieren, wenn nicht gar rückläufig sind.
Bei Diskussionen mit anderen Läufern stieß ich oft auf die Aussage: Heutzutage laufen eben viel mehr Frauen, und die sind nun mal langsamer. Außerdem ist der Altersschnitt höher als vor Jahren, auch deshalb sind die Zeiten insgesamt langsamer geworden. Stimmt das? Wie ist die Entwicklung der Zeiten tatsächlich? Und ist diese Geschlechter- bzw. demographische Verschiebung ursächlich dafür? Ich wollte das einmal etwas breiter angelegt und systematischer vergleichen und habe Marathonleistungen von „früher“ und „heute“ verglichen. Alle Zahlen beziehen sich immer auf die Finisher.
Was wurde verglichen? Was ist früher, was ist heute?
Heutige Zeiten zu analysieren ist relativ einfach, stehen doch die Ergebnisse elektronisch auswertbar zur Verfügung, und das meistens bereits am Veranstaltungstag. Vor Jahren war das noch anders. Entweder wartete man etliche Stunden, bis die Listen ausgehängt wurden, oder erfuhr seine Zeit und Platzierung mehrere Wochen später, wenn endlich das Ergebnisheft verschickt war. Auf solche Ergebnishefte habe ich in meiner Betrachtung zurück gegriffen. Ich habe den Hamburg-Marathon untersucht, und zwar die Jahre 1995 – 97 sowie 2011 – 13. Den 3-Jahres-Zeitraum habe ich heran gezogen, um Besonderheiten heraus zu filtern bzw. zu glätten. (1995 fanden z. B. die Deutschen Meisterschaften statt, während 96 ein Hitzerennen mit deutlich schlechteren Zeiten war.)
„Schnelle“ Zeiten früher und heute
Eine Marathonzeit unter 3 Stunden gilt gemeinhin als eine Art Schallmauer und Eintritt in den erlauchten Kreis der „schnellen“ Läufer. Also habe ich untersucht, wie viele Läufer diese Schallmauer früher bzw. heute unterboten haben. Da bei Frauen und höheren Altersklassen der Männer die Zeiten im Schnitt langsamer sind, habe ich zusätzlich den Anteil der Zeiten unter 3:30 h ermittelt.
Bei den Männern ist die Finisherzahl von 22.666 (Summe 1995-1997) auf 26.192 (Summe 2011-2013) moderat gewachsen, die sub 3-Läufer nahmen aber von 2.425 auf 1.019 ab (-58%), sub 3:30 verzeichnet ein Minus von 40%. Die Zahl der weiblichen Finisher wurde mehr als verdoppelt (+110%), der Anteil der sub 3- und sub 3:30-Läuferinnen blieb dennoch fast gleich. D. h., relativ gesehen sind die Anteile ebenfalls deutlich gesunken. Beides auch grafisch zu sehen: für Männer und Frauen.
„Breite Masse“ früher und heute
Ein recht brauchbares und einfach zu ermittelndes Maß für die Zeiten der breiten Masse stellt der Median dar, d. h. der Wert, der das gesamte Feld sozusagen in zwei Hälften teilt: die erste Hälfte ist schneller als der Median, die zweite Hälfte langsamer.
Bei den Männern ist die Medianzeit von 3:40:23 h auf 3:59:19 h gestiegen, das bedeutet 8,6% langsamer, bei den Frauen von 4:04:16 h auf 4:21:33h oder 7,1% langsamer. Auch hier kann das Ganze grafisch betrachtet werden.
Die allgemeine demographische Entwicklung spiegelt sich auch in der Verteilung der Altersklassen wider. Wie die Grafik zeigt, waren 1995-1997 (rot) die stärksten Männerfelder die Hauptklasse sowie M30 und M35, knapp dahinter die M40. 2011-13 (blau) sind die Läufer klar älter: die größte Klasse ist die M45, dahinter die M40 und als drittstärkste Gruppe bereits die M50.
Der Frauenanteil hat sich mehr als verdoppelt und von 12% auf 21% erhöht. Die AK-Verteilung ist ähnlich wie bei den Männern: die weitaus stärkste Gruppe ist die W45, gefolgt von der ebenfalls starken W40 und dahinter fast gleich stark die Hauptklasse sowie W50, W30, W35. Damit scheint der Grund für die schwächeren Zeiten heutzutage gefunden, nämlich mehr Frauen und ältere Läufer. Aber stimmt das wirklich?
Sind Frauen und Ältere die Ursache für schlechtere Laufleistungen?
Nun, für jede einzelne Altersklasse kann man wieder den Anteil an „schnellen“ Läufern (< 3 h bzw. < 3:30 h) heranziehen ebenso wie die Entwicklung der Medianzeiten. Dabei zeigt sich, dass die Frage oben klar mit „nein“ zu beantworten ist. Genauer muss es heißen: Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen und in allen Altersklassen gibt es relativ gesehen weniger schnelle Läufer und bei den Männern durchgängig in allen Altersklassen auch in absoluten Zahlen weniger schnelle Läufer. Die Grafiken zeigen das deutlich: MHK-M40, M45-M60. So verzeichnet beispielsweise die M30 einen Rückgang der Finisherzahlen um 25%, aber ein Minus von 68% bei den sub 3-Läufern. Die M45 als nunmehr stärkste Klasse ist um 75% gewachsen, hat aber 21% weniger an sub 3-Finishern.
Bei den Frauen, die ja um über das Doppelte zugelegt haben, führt die Zunahme zu einem leichten, aber nur unterproportionalen Anstieg der schnellen Läuferinnen, und das auch nur teilweise: WHK-W40, W45-W50, z. B. W45 Verdreifachung der Finisherzahl, keine 3 h-Läuferin und „nur“ 71% mehr sub 3:30-Läuferinnen.
In der Breite, d. h. beim Median zeigt sich in der Altersklassenanalyse ein ähnliches Bild. In der Grafik unten ist deutlich zu sehen, dass sich das Feld nach hinten verschoben hat, und zwar von knapp 8 bis zu 9% langsamer. Für M50-M65 ist die Verlangsamung sogar noch ein wenig größer, einzig die M70 weicht ab, aber hier sind die Teilnehmerzahlen niedrig und damit eingeschränkt repräsentativ. Auch bei den WHK-W45 und W50-W60 ist der Median klar langsamer geworden, allerdings prozentual etwas weniger als bei den Männern (knapp 5 – 8 % langsamer).
Fazit
Die Analyse des Hamburg-Marathons zeigt, dass erstens die Zeiten tatsächlich deutlich langsamer geworden sind und dass das zweitens weder dem höheren Frauenanteil noch der Veränderung in den Altersklassen geschuldet ist, sondern sich quer durch alle Kohorten zieht. Die Verschiebung ist dabei auch so eklatant, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass es sich um ein Hamburg-spezifisches Phänomen handelt. Einzelne Stichproben anderer Marathons unterstreichen das.
In den letzten Jahren hat der Laufsport eine ziemliche Kommerzialisierung und Technisierung erfahren: Es gibt unzählige Ratgeber, Laufbücher, Trainingspläne, Leistungsdiagnostiken, Pulsmessung, GPS-Aufzeichnung, ständig neue Trends bei Schuhen und Bekleidung, Gels, KH-Drinks etc., so dass ein Großteil der Anfänger meint, ohne so etwas gar nicht erst einsteigen zu können. Zugegeben: vieles ist praktisch oder einfach nur ein nettes Gimmick. Nur eins haben alle diese Neuerungen nicht vermocht: die Läufer schneller zu machen oder zumindest den Trend zu langsamen Zeiten zu stoppen.
Der Autor Dr. Bernd Juckel hält mit 7:53:42 h seit 2012 den Weltrekord in der AK 60 über 100 km.