Als ich wie immer am Vorabend des Rennsteiglaufes in Neuhaus mit Rucksack, Isomatte und Schlafsack eintraf, ahnte ich noch nicht, welche Überraschungen mich erwarteten.
Zunächst suchte ich vergebens die Schule am Apelsberg, wo ich immer in einem der Klassenräume übernachten konnte. Sie fiel der Abrissbirne zum Opfer. Dafür stand die Turnhalle des Gymnasiums zur Verfügung. Es war noch genügend Platz und schnell richtete ich mir mein Nachtlager ein. Danach schlenderte ich zur GutsMuths-Halle, besuchte die kleinen Messestände und holte mir meine Startunterlagen ab. Witzig fand ich die Sonnencreme im Starterbeutel, braute sich doch gerade über Neuhaus ein riesiges Unwetter zusammen. Pünktlich um 18.00 startete die Heichelheimer Kloßparty. Der Moderator Hans Peter Müller (Hansi) und die Partyband Hess verbreiteten gleich gute Stimmung und versprachen für heute anlässlich des 45. Rennsteiglaufes und des 40. Starts in Neuhaus noch einige Überraschungen.
Mein erster Rennsteiglauf war 1980, damals war die Strecke noch 45 km lang. Der Rennsteiglauf war damals schon Kult und man musste Glück haben, einen Startplatz über das Kontingent des jeweiligen DTSB-Kreisvorstandes zu erhaschen. Erstmals wurde die Anzahl der Teilnehmer limitiert durch Intervention des Bundesvorstandes des DTSB und aus EDV-technischen Gründen. Die damalige Technik ermöglichte keine fünfstellige Datenerfassung (VEB Robotron Zella-Mehlis).
So konnten maximal 9999 Startkarten gedruckt werden. Ich wohnte in Ilmenau und hatte Glück. Auf der Meldekarte musste ich Aussagen über Vorbereitung und Training angeben (Teilnahme an vorhergehenden Rennsteigläufen, Trainingskilometer und -tage pro Woche, Teilnahme an Wettkämpfen/Ausdauerläufen im letzten halben Jahr. Man musste an mindestens drei Läufen über 15 km teilgenommen haben. Dazu gehörte auch eine umfangreiche sportmedizinische Untersuchung beim Kreissportarzt. Am Lauftag selbst fuhren Sonderbusse nach Neuhaus und von Schmiedefeld zurück Sonderzüge. Der Gepäcktransport war damals schon perfekt organisiert, die Stimmung auf der Strecke unglaublich und die Verpflegungspunkte sensationell mit dem berüchtigten Haferschleim, Tee, Wasser, Zitronenscheiben, Äpfeln und – man staune – Bananen. Die gabs nämlich sonst für den normalen DDR-Bürger kaum. Was mir damals schon auffiel, war die selbstlose Hilfsbereitschaft der Läufer untereinander und die herzliche Anfeuerung der Bewohner entlang des Rennsteiges. Einmal benötigte ich auf der Strecke unerwartet Toilettenpapier und bekam es sofort von einem Läufer gereicht. Er wünschte mir noch viel Glück und spurtete mit seinen geschätzten 80 Lenzen an mir vorbei. Da kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus. In Schmiedefeld wurde, wie heute auch, fast jeder Läufer persönlich begrüßt. Für Warmduscher war der Lauf nicht zu empfehlen. Gewaschen wurde sich neben dem Sportplatz an Waschtrögen mit kaltem Wasser. Nackig in Schlange anstehen gehörte dazu. Aber das störte keinen.
Wahrscheinlich auch nicht den Überraschungsgästen, die selber am Rennsteiglauf teilnahmen. Den ersten entdeckte ich am Eingang der Halle. Da saß doch leibhaftig die Radsportlegende Gustav Adolf „Täve“ Schur. Als er auf die Bühne gerufen wurde, tobte die gesamte Halle und er musste auf dem Weg viele, viele Hände schütteln.
Der zweite Gast hatte schon vorher als Doppelolympiasieger im Marathon auf zig Startnummern und Laufshirts ein Autogramm geben müssen. Auch Waldemar Cierpinski richtete einige Grußworte an uns und wünschte jedem gutes Gelingen und gesundes Ankommen. Der dritte im Bunde war Dr. Rüdiger Grunow. Er und Täve liefen 1977 den Supermarathon von Eisenach nach Schmiedefeld mit. Dr. Grunow (rechts im Bild unten) verlas seine Laudatio, die er anlässlich des 85. Geburtstages von Täve geschrieben hatte. Gemeinsam sangen sie dann für uns die Hymne des Rennsteiglaufes, das Rennsteiglied. Das war Gänsehaut pur.
Pünktlich um 21.30 Uhr lag ich in meinem Schlafsack und in der Turnhalle zog sehr schnell Ruhe ein, nur gestört vom Unwetter, das draußen noch tobte.
Am Lauftag weckte uns die Sonne und um 6.00 Uhr nahm ich am liebevoll angerichteten Frühstück in der GutsMuths-Halle teil.
Gegen 8.30 Uhr füllte sich der Startgarten. Wieder sorgten der Hansi und eine Blaskapelle für eine gute Stimmung. Auch der im Nachbarort Scheibe-Alsbach wohnende Biathlon Bundestrainer Mark Kirchner richtete ein paar aufmunternde Worte an uns und pünktlich um 9.00 Uhr gab Täve den Startschuss!
Jetzt geht es los. Knapp 3000 Läufer winden sich den Anstieg hinauf zum Ortsausgang von Neuhaus. Ein paar Bekannte trifft man immer und ich musste mein Lauftempo etwas drosseln.
Bloß nicht sich mitreißen lassen und zu schnell anlaufen. Nach 5,8 km erreichte ich guten Mutes die erste Getränkestelle an der Steinheider Hütte.
Nun wurde die Straße verlassen und endlich lief es auf einem Forstweg leicht bergab Richtung Limbach. Noch sind alle entspannt und viele Gespräche werden geführt, die im Verlaufe des Rennens weniger wurden. Schnell erreichte ich den Dreistromstein bei Kilometer 10,6. Hier nahm ich neben einem Becher Wasser den ersten berühmten Haferschleim zu mir. Jede Verpflegungsstelle stellt einen geschmacklich anderen Haferschleim bereit. Die Rezeptur ist geheim und wird den nachfolgenden fleißigen ehrenamtlichen Helfern weitervererbt. Überhaupt werden alle Verpflegungspunkte schon seit 40 Jahren von denselben Sportvereinen betreut. Jetzt musste der erste steilere Anstieg genommen werden. Ich fühle mich gut.
Vorbei am idyllisch gelegenen Ort Friedrichshöhe laufe ich der Turmbaude von Masserberg entgegen. Die Waldwege sind durch den gestrigen Regen etwas aufgeweicht. Man muss halt aufpassen und immer hellwach sein, auch der vielen Wurzeln wegen. Bald vernehme ich das Rennsteiglied, welches ich heute noch mindestens gefühlte 20 Mal hören und auch mitsingen werde. Die Turmbaude Masserberg ist erreicht, der höchste Punkt beim Marathon (841,5 m). Hier erfolgt auch eine erste Zeitmessung bei Kilometer 18.8. Frisch gestärkt laufe ich den steilen Ersteberg eher vorsichtig hinunter. In Masserberg stehen rechts und links neben der Strecke viele Zuschauer und feuern uns enthusiastisch an. Auf einem traumhaft schönen Wiesenpfad geht es weiter zur Halbmarathonmarke und zum berüchtigten Hohlweg.
Mir geht es immer noch gut. Es gilt, seine Kräfte gut einzuteilen und ein paar Körner für die kommenden Berge aufzuheben. Aber zunächst muss ich die hohle Gasse hinunter. Jetzt heißt es erneut aufpassen. Es geht steil hinunter mit vielen Treppenstufen, Steinen und Wurzeln. Dann ist es passiert. Eine Läuferin vor mir ist gestolpert, sitzt auf dem Boden und hält sich jammernd den Fuß. Aber gottseidank ist die Bergwacht da. Und sie sagt mit einem weinenden und einem lachenden Auge: „Ich hätte mir wohl keine bessere Stelle zum Umknicken aussuchen können“. Sie wird professionell versorgt. Manche Stimmen wurden wegen dieser Gefahr laut, den Hohlweg aufzufüllen. Aber wir sind hier bei einem Landschaftscrosslauf und nicht bei einem Straßenmarathon.
Wir kommen zum nächsten Getränkestützpunkt an der Schwalbenhauptwiese. Auch hier werden wir freundlich bewirtet und eine Kapelle spielt das Rennsteiglied. Nach einem Becher Wasser renne ich weiter.
Jetzt wird es wärmer und ich weiß genau, was mich jetzt erwartet. Wir müssen uns 6 Kilometer immer leicht bergauf nach Neustadt quälen. Ich laufe auf dem Original-Rennsteig im Schatten, während die meisten die sonnige Straße benutzen. Viele fangen an zu gehen. Ich horche in meinen Körper hinein. Ich fühle mich noch gut. Einen Rekord will ich nicht laufen und auch nicht gewinnen, aber so lange es geht will ich laufen. Und so trabe ich langsam an vielen vorbei. Plötzlich taumelt vor mir ein Läufer. Ich halte an und frage, ob ich ihm helfen kann. „Bei mir geht es im Moment gar nicht mehr“. Ich biete ihn mein „Viatlon“ an, welches er nicht kennt. Das gab es schon vor 40 Jahren und wird in Teltow hergestellt. Aber als ich sage, dass es sowas wie ein Gel ist, u.a. aus Malzextrakt besteht, freut er sich wie ein Schneekönig. Ich hoffe, er hat gesund das Ziel erreicht.
Wir laufen durch den kleinen Ort Kahlert. In zwei Kilometern erreichen wir hoch oben den nächsten Verpflegungspunkt von Neustadt. Hier bekomme ich mein geliebtes Salz und wieder leckeren Haferschleim. Wir hören das Rennsteiglied und manche Leidensgenossen müssen sich die Beine massieren lassen. Und weiter geht’s. Ich weiß, jetzt kommt gleich nicht der Mann mit dem Hammer, aber dafür der berüchtigte Burgberg (811 Meter hoch). Spätestens jetzt verfallen die Hobby-Marathonläufer in einen zügigen Gehschritt, auch ich. Manchen sind die Strapazen jetzt anzusehen. Ich denke an die Spitzenläufer, die sicher schon lange im Ziel sind und beneide sie ein wenig. Aber wer denkt, das Schlimmste sei geschafft, der irrt sich gewaltig. In einem stetigen Auf und Ab schlängelt sich der Weg hinauf zum nächsten Getränkestützpunkt am Großen Dreiherrenstein, Kilometer 33,4.
Neu ist, dass man ähnlich wie beim Supermarathon, hier aussteigen kann, aber in der Wertung bleibt und offiziell in den Ergebnislisten erscheint. Ein Transfer zum richtigen Ziel in Schmiedefeld ist organisiert. Ich sehe auf den Bänken nur einen jungen Mann sitzen, der auf den Bus wartet. Aber trotzdem toll, diese Möglichkeit nutzen zu können, wenn es gar nicht mehr geht.
Leicht bergab erreiche ich das kleine Örtchen Allzunah und über den steilen Anstieg zum Meisenhügel, den ich jetzt gehend bewältige, laufe ich dann zum letzten Verpflegungspunkt in Frauenwald hinunter. Fast alle Läufer werden vom Sprecher persönlich begrüßt. Ich weiß aus meinen vorherigen Teilnahmen, dass hier nochmal ein besonderer Energieschub auf uns wartet – ein Becher Köstritzer Schwarzbier.
Es ist nicht mehr weit. Wir schlängeln uns neben der Straße Richtung Ziel.
Vier Kilometer davor kann man schon die beiden Sprecher und Schmiedefelder Urgesteine Petra Kühn und Siggi Weibrecht hören
Leicht bergab lasse ich mich nach Schmiedefeld rollen, schnell die Ilmenauer Straße überquert, die auch hier vorbildlich von der Polizei abgesperrt ist.
Jetzt heißt es letzte Kräfte mobilisieren, denn ich weiß, was jetzt alle Marathoni erwartet: ein letzter fast einen Kilometer langer Anstieg zum Schmiedefelder Sportplatz.
Vollgepumpt mit Adrenalin und hochgepeitscht von den vielen Zuschauern semmel ich den Berg hoch. Hier zu gehen wäre jetzt doof. Viele rufen meinen Namen und versichern mir: „Du siehst noch gut aus!“ Nur wissen sie nicht, dass ich mit den Tränen kämpfen muss, wie jedes Jahr. So, noch eine halbe Runde auf dem Sportplatz drehen und plötzlich bin ich im Ziel. Überglücklich, geschafft, aber stolz wie Oskar lasse ich mir von einem Medaillenkind meine wunderschöne Medaille umhängen.
Ich treffe viele Bekannte. Alle sind gesund und zufrieden angekommen. Nach Läuferbier und Läufersuppe leiste ich mir noch ein Fischbrötchen, hole meine Urkunde ab und gehe ins Quartier in die Impuls-Schule. Dort kann ich ausgiebig duschen und nach einem kleinen Schläfchen zieht es mich wieder, noch etwas wacklig auf den Beinen ins Festzelt auf den Sportplatz. Jetzt beginnt die legendäre Party. Ganz viele haben ganz stolz ihre Medaillen mitgebracht. Jeder kann stolz sein, ob Halbmarathoni, der Marathonläufer, die Wanderer oder die eigentlichen Könige, die Supermarathonläufer. Wir feiern fröhlich ausgelassen aber absolut friedlich, singen zum x-ten Mal das Rennsteiglied, den Schneewalzer und die Rennsteighymne. Natürlich hüpfend und schunkelnd auf den Bänken. Das heute mehrere Streckenrekorde gebrochen wurden, bekomme ich auch mit und alle freuen sich über die Gewinner. Und wir sind uns einig:
Und nächstes Jahr, das ist doch klar, sind wir alle wieder da!