Die Olympischen Sommerspiele in Rom 1960 waren etwas Besonderes – nicht nur in sportlicher Hinsicht. Um nur Einiges heraus zu greifen: Hier begann ein 18-jähriger Boxer namens Cassius Clay seinen Weg. Dann sah man den alles überstrahlenden Sieg des Abebe Bikila im Marathon (barfuß gelaufen!), die phantastische US-Amerikanerin Wilma Rudolph über 100 und 200 m, die aufgehenden Sterne von Ralph Boston im Weitsprung, Waleri Brumel im Hochsprung und des Neuseeländers Peter Snell über die Mittelstrecken. Die Deutschen, im Rahmen einer Gesamtdeutschen Mannschaft am Start, ragten mit dem phänomenalen 100-m-Sieg von Armin Hary, dem Weltrekordlauf von Carl Kaufmann über 400 m (44,9 sec.) und dem für die Deutschen bei Olympischen Spielen bis heute einmaligen Doppel-Silber von Hans Grodotzki über 5000 und 10000 m – und das alles auf Aschenbahn gelaufen – heraus.
Hans Grodotzki, er sitzt mir an einem feuchtkalten Februartag 2012 in einem Potsdamer Cafe gegenüber, wurde am 4.4.1936 in Preußisch-Holland, damaliges Ostpreußen, geboren. Allein der Name dieses Ortes (heute Paslek/Polen) wäre eine eigene Geschichte wert. Hans war neun Jahre alt, als seine Mutter – sein Vater war im Krieg – mit ihm und seinem Bruder die Heimat verlassen musste. Das Bild von erschossenen deutschen Deserteuren hat sich ihm auf der Flucht eingeprägt. Die Flüchtenden kamen nur wenige Kilometer weit, dann hatte die russische Armee sie eingeholt und wieder zurückgebracht in die Stadt, die dann unter polnische Verwaltung kam. Noch im Mai 1945 erfolgte die Aussiedlung, nach wochenlanger Fahrt im Güterwaggon zunächst nach Mecklenburg, später ging die Familie nach Menteroda in Thüringen. Hans fing nach der Schulzeit 1951/52 als Lehrling im Kalibergbau an und arbeitete später bis in 1100 m Tiefe. Von Beginn an, sein Vater und sein Onkel waren sportbegeistert und lebten dies vor, interessierte ihn Fußball, Tischtennis, dann auch das Laufen. 1954 nahm er, ohne Training, an den Waldlauf-Kreis- und Bezirksmeisterschaften teil und gewann. Im gleichen Jahr delegierte man ihn zu den DDR-Waldlauf-Meisterschaften nach Berlin-Grünau: Er wurde Zweiter. Nach einem halbjährigen „Zwischenspiel“ in Brieske-Senftenberg – dort gefiel ihm aber das Umfeld nicht – ging Hans Grodotzki wieder nach Thüringen zurück, arbeitete im Schacht und meldete sich dann bei der Kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der NVA. Inzwischen war man auf den schnellen Mann, der nun selbst sportlichen Ehrgeiz entwickelte, aufmerksam geworden und holte ihn 1956 zum ASK Erfurt – ab 1. Oktober jenes Jahres ASK Vorwärts – (Trainer Erich Bock). Bei der „Kali-Olympiade“ 1955 lief Hans ohne großes Training 15:32 min. über 5000 m, ein Jahr später beim Rudolf-Harbig-Sportfest in Dresden schon 14:28 min. Bei der „Spartakiade der befreundeten Armeen“ 1958 verpasste er bei seinem ersten 10000-m-Wettkampf den Deutschen Rekord von Herbert Schade/Solingen nur um zwei Sekunden. Im gleichen Jahr musste Hans Grodotzki zu einem Gespräch nach Strausberg. Der damalige Verteidigungsminister Willi Stoph legte fest: Delegierung zum ASK Vorwärts Berlin, Standort Potsdam, Trainer Curt Eins. Das systematische Training in starker Läufergruppe (Buhl, Valentin, Janke) begann. 1959 lief Grodotzki seinen ersten Deutschen Rekord: 3000 m in 7:58,2 min. Im Länderkampf mit Polen in Berlin kam er über die 5000 m schon auf 13:48 min. Die deutschen Ausscheidungskämpfe 1960 für Rom in Schweinfurth (hier blieb er bei 10000 m mit Rekord von 28:57,8 min. als erster Deutscher unter 29 min.) und in Erfurt absolvierte Hans erfolgreich.
In Rom startete die Gesamtdeutsche Mannschaft in einheitlicher Kleidung, mit schwarz-rot-goldener Fahne, den fünf olympischen (hier weißen) Ringen und Beethovens Finalsatz aus der 9. Sinfonie „Freude schöner Götterfunken …“ als Hymne. Über 5000 m gewann Grodotzki seinen Vorlauf, musste dann aber im Endlauf dem Neuseeländer Halberg (er hatte einen gelähmten Arm), den Sieg deutlich überlassen. Über 10000 m, ohne Vorläufe, einem Starterfeld von 32 Läufern und hoher Luftfeuchtigkeit, fühlte Hans sich sehr gut, wurde aber dann durch Bolotnikow im Endspurt noch geschlagen. Grodotzki lief im Finale 28:37,0 min – eine auch 50 Jahre später noch phantastisch anmutende Zeit – und damit erneut Deutschen Rekord. (Episode: Die ostdeutschen Läufer traten im 10000-m-Lauf mit Trauerflor an, denn zwei Tage vorher war Wilhelm Pieck gestorben).
Mit vielen Rivalen von damals ist Hans Grodotzki bis heute in Freundschaft verbunden, so auch mit Horst Flosbach, der ebenfalls in das Finale kam. Hans hatte dann in Rom auch ein Treffen mit Sepp Herberger, Helmut Schön und Fritz Walter, an das er bis heute mit Freude zurückdenkt.
Das nacholympische Jahr war für den Medaillengewinner in jeder Hinsicht kein besonders gutes. Hans Grodotzki war durch den Trubel und das darauf folgende „Herumreichen“ – was er heute selbst auch kritisch sieht – in der Heimat etwas aus dem Tritt gekommen. Hinzu kam der Mauerbau 1961. Während dieser Zeit war er gerade zu Wettkämpfen in Dänemark und Island. Ein US-amerikanischer Offizier der damaligen NATO-Basis Reykjavik hielt ihm dann die Zeitung mit der Nachricht unter die Nase. – Das Jahr 1962 ging sportlich verheißungsvoll los, endete aber dann bei den deutschen Ausscheidungskämpfen in Malmö mit einer schweren Verletzung – dem Durchriss der linken Achillessehne, 200 m vor dem Ziel! Die Operation verlief nicht gut und so war das Ende einer leichtathletischen Laufbahn 1964 unabänderlich.
Hans Grodotzki machte dann bei der Armee seinen Diplomlehrer-Abschluss, blieb Sportoffizier und wurde 1981 Zivilangestellter. Nach der Wende hatte er die eine oder andere Frage zu beantworten, wurde von der Bundeswehr übernommen und erhielt 1991 als erster Ostdeutscher den Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis. Von 1995-2000 arbeitete Hans in der Verwaltung einer deutschen Fluggesellschaft. Seit einigen Jahren ist er Pensionär, hat viele Kontakte mit alten und neuen (Sport)freunden und freut sich über seine zwei Enkel und einen Urenkel.
Hans ist ein freundlicher, drahtiger Mann, der auch heute noch eine Läuferfigur hat. Da ich weiß, dass viele Langstreckler gerne Kuchen essen, habe ich ihm etwas vom LC RON-HILL und mir erzählt, damit er auch mal zuhören und seinen Kuchen genießen kann. Über das Foto von uns hat er sich gefreut. Übrigens: Zum 40. Rennsteiglauf im Mai 2012 erhielt Hans Grodotzki eine Einladung und wird dort zusammen mit Helmut Recknagel, dem RON-HILL Ehrenmitglied Heinz Florian Oertel und anderen an einer Prominentenwanderung teilnehmen. Nun, vielleicht treffen wir uns in Schmiedefeld wieder.
Was mich überraschte: Hans Grodotzki, er hat die Begeisterung von seinem ostpreußischen Onkel übernommen, ist seit langem Fußball-Fan und Mitglied von Schalke 04 und seit einigen Jahren auch Ehrenmitglied des FC Rot-Weiß Erfurt. Was ihn am heutigen Leistungssport ärgert? Dass viele Aktive, trotz teilweise guter Förderbedingungen, ihre eigene Leistungsmesslatte nicht hoch genug hängen.
Zum Abschluss haben wir noch über Brasilien gesprochen: Ende 1960 wurde Hans Grodotzki von einer Sportzeitung zum Silvesterlauf nach Sao Paulo eingeladen. Zunächst ging es mit dem Flugzeug von Berlin-Schönefeld nach Prag. Dort sollte er sein Visum für Brasilien bekommen. Da das Einreisevisum aber nicht erteilt war, flog er wieder zurück nach Berlin, um hier zu erfahren, dass es nun in Prag vorläge. Seine Reiseroute verlief dann so: Berlin – Prag – Zürich – Genf – Lissabon – Dakar (Maschinenschaden) – Rio de Janeiro – Sao Paulo. (Episode: Im Flugzeug von Zürich nach Genf hatte er Lieselotte Pulver als nette Sitznachbarin). Erst am vorletzten Tag des Jahres kam er in Sao Paulo an. Der Start des 7,4 km langen Silvesterlaufes erfolgte um 23:45 und ging ins neue Jahr. Der Argentinier Osvaldo Suarez (Olympiade Rom Marathon – neunter Platz in 2:21:26 h) gewann, Hans wurde Zweiter. Zwei Tage später gab es noch mal einen Stadionlauf, den diesmal Hans Grodotzki vor eben jenem Argentinier gewann. Hans hat während dieser Reise auch Brasilia, die damals, vom Architekten Oscar Niemeyer geplante, junge, neue Hauptstadt Brasiliens kennen gelernt, den FC Santos spielen sehen und konnte mit dem legendären Gilmar (damals noch bei Sao Paulo) sprechen. Diese Reise im Dezember bezeichnet Hans Grodotzki als die schönste seines Lebens. Ich habe ihn nicht nach dem Warum gefragt. Aber vielleicht wäre die Antwort, dass er 1960 gerade mal 24 Jahre alt war, in den vergangenen zwölf Monaten Außerordentliches erlebt hatte, das Leben vor ihm lag und die Welt offen erschien …
© Jürgen Pahl, Berlin, 20.2.2012
Einfach schön, so detailliert und anprechend etwas über Läufergrößen vergangener Jahre zu erfahren.
Wie kann ich Kontakt zu Hans Grodotzki aufnehmen ?
Mit freundlichen Grüßen
Robert Ebner
Servus und Hallo in diese kleine Runde.
1960 habe ich den Hans im Fernsehen bei seinem Silberlauf in Rom zum ersten mal gesehen. Schwarz weiß und auf Aschenbahn. Dann war er einmal tatsächlich in meinem Heimatort Zschornewitz zu Gast, und ich konnte ihn live sehen (etwa 1968, ich wäre dann 18 Jahre alt gewesen).
Lieber Hans, wenn Du diese Zeilen lesen solltest, schreib mir bitte. Mein Vater stammt aus „Preußisch Mark“, oder hat dort gelebt. Ich war mit meinen Eltern mal dort später, als es erlaubt war.
Meine älteste Schwester (Jahrgang 1938) war mit meiner Mutter und weiteren zwei jüngeren Geschwistern von mir ebenfalls auf der Flucht aus Ostpreußen. Mein Vater lag im Lazarett, irgendwie kamen sie alle durch, zum „Glück war die „Gustloff“ überfüllt.
Ich würde mich sehr freuen.
Wolfgang
Nazywam się Krzysztof Borowski i mieszkam w Gdańsku. Zajmuję się historią rodziny Grodocki. Moja babcia ze strony mamy nazywała się Greta Grodocka i mieszkała w Powodowie /Powunden/ kreis Preussen Holland. Wszyscy Grodoccy pochodzą z parafii Frednowy /Frodenau/
Mein Name ist Krzysztof Borowski und leben in Danzig. Ich beschäftige mich mit einer Familiengeschichte von Grodocki. Meine Großmutter mütterlicherseits hieß Greta Grodocka und lebte in Kläger / Powunden / kreis Preussen Holland. Alle Grodoccy kommen aus der Pfarrei Frednowy / Frodenau /
Ich bin 48. Jahrgang und die 1960 Spiele in Rom waren meine ersten Spiele , die ich verfolgte , An viele Sportler (Krämer, Radsportler,Hill,Brumel,Clay u.s.w.) erinnere ich mich noch gut natürlich auch an den blonden Hans. Der mich schon damals besonders durch sein bescheidenes Auftreten begeisterte leider wurde er dann verletzt und mußte seine Karriere viel zu früh beenden.Ich wünsche ihm Gesundheit und Wohlergehen im Kreis seiner Familie.